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Weihnachtsbesinnung

Liebe Ordensmitglieder und Freund*innen


Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
Das ist des Menschen Größe und Not:
Sehnsucht nach Stille,
nach Freundschaft und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.
Fing nicht auch deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
Dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
Dich gefunden zu haben.“


Nelly Sachs


Wenn wir dem inneren Motiv dieser Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem nach-spüren: Was haben diese Menschen, die ihn da bejubeln erwartet, was war ihre Sehn-sucht? Fragen wir weiter: was erwarten wir, was ist unsere Sehnsucht? Vielleicht kann diese Erzählung von Palmzweigen, einem Esel und großen Men-schenmassen eine Antwort bereithalten.


Blicken wir also genauer in die Erzählung. Jedes Jahr, wenn das jüdische Passahfest naht, wird die Stimmung aufgeladener: Wann kommt der Messias? Er wird doch kommen, er muss doch kommen- der Be-freier aus der Macht schwer zu ertragender Verhältnisse, aus Elend, Krankheit und Not. In diesem Sinne wird die Stimmung in Jerusalem Jahr für Jahr „adventlich“. Und nun richtet sich alle Hoffnung auf Jesus:


„Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“


Es ist die Erlösungshoffnung der kleinen Leute auf dem Hintergrund ihrer Ohn-machtserfahrungen, die sie täglich gemacht haben und die sie weiterhin täglich ma-chen werden.


Hosianna- Gott, hilf doch- das ist der flehentliche Schrei derer, die am Ende ihrer ei-genen Möglichkeiten sind; es ist ein Verzweiflungsschrei!
Ein genauerer Blick in die Erzählung macht etwas deutlich: Jesus wird als „Davids-sohn“ verstanden und so ganz eng mit der alten Hoffnungsgeschichte um König Sa-lomo verbunden: Auch da Esel und Einzug in Jerusalem. Wer die alte Geschichte kennt, versteht unsere heutige Sehnsuchtsgeschichte besser. Daher ein kurzer Rück-blick:
Während König David in seinen letzten Tagen weder leben noch sterben kann, schar-ren seine Söhne schon mit den Hufen. Ein erbitterter Machtkampf um seine Nachfol-ge entbrennt Alles, was Rang und Namen hat, ist da. Nicht geladen aber sind Davids Lieblingsfrau Bathseba, Sohn Salomo und der Prophet Nathan. Sie intervenieren beim König und erreichen, dass umgehend noch zu Lebzeiten Davids sein Sohn Sa-lomo zum König gesalbt wird. Um diesen Akt zu veröffentlichen, lässt David seinen Esel aus dem Stall holen und auf diesem königlichen Maultier Salomo in Jerusalem einziehen. Das Volk versteht diese Symbolhandlung und jubelt ihm zu: „Es lebe der König Salomo!“ So wird der von der Oberschicht Geschmähte und Gemiedene zum König des Volkes.


Was uns heute wie eine alte Erzählung von einer Hofintrige anmutet, war durch die Jahrhunderte hindurch Hoffnungsgeschichte für alle kleinen Leute: Eines Tages wird einer wie Salomo kommen, „ein Gerechter und ein Helfer“, wird als wahrer Davids-sohn auf einem Esel in Jerusalem einziehen, die Unterdrückten befreien und Frieden und Gerechtigkeit aufrichten.


Was für eine Sehnsuchtsgeschichte damals bei Salomo und was für eine fast gleiche Sehnsuchtsgeschichte bei Jesus!
Und wir heute? Kann diese Sehnsuchtsgeschichte auch zu unserer Sehnsuchtsge-schichte werden? Wer ist der sanftmütige Eselsreiter für uns heute?

Sicherlich kein König Salomo und keiner, der unmittelbar und für jedermann sichtbar unsere alltäglichen Verhältnisse ändert. Stattdessen einer, der in unser Herz einziehen will und uns da verwandeln will.


Wer ist der sanftmütige Eselsreiter?


Für den bedeutenden Schweizer Pfarrer und Dichter Kurt Marti- ich schließe mich ihm gerne an- ist der sanftmütige Eselsreiter einer, „der inspirierte und einzigartige Sätze sagte, ein Jude, der aus der alttestamentlichen Tradition überraschende und universal gültige Schlüsse zog; ein Heiler körperlicher Leiden; ein freier Mensch, stolz gegen-über Mächtigen, liebevoll gegenüber Machtlosen und Verachteten, ein Mann, der männlich genug war, um das Weibliche in sich nicht verdrängen zu müssen, ein Emanzipator der Frauen; ein Hinführer, sogar Verführer zum Leben, deswegen hinge-richtet, deswegen auferstanden.“


Und fügt noch hinzu - vielleicht ganz mutig, ganz subjektiv, ganz persönlich: Jesus ist derjenige, vielleicht der einzige, „der unseren verrückten und kindlichen Wunsch, sehr zu lieben und sehr geliebt zu werden und hierdurch sehr glücklich zu werden, absolut ernst nimmt.“


Für mich ist die heutige Erzählung vom sanftmütigen Eselsreiter eine Befreiungs- und eine Mutmach-Geschichte:
Wir alle sehnen uns nach gelingendem Leben, bemühen uns redlich und werden doch so oft mit schmerzlichen Grenzen konfrontiert. Vielleicht kann und will uns diese Ge-schichte befreien: Von Allmachtsphantasien ebenso wie von depressiver Untergangs-gestimmtheit. Wenn sich unser Leben mit Christus verwebt, ist ein Ja zum Bruchstückhaften, zum Fragmentarischen leichter.


Christus, der selbst alle Tiefen menschlichen Lebens durchlitten hat, befreit uns zum Ja zu uns selbst.
Der „sanftmütige König“ befreit uns zur eigenen Sanftmut: Zum Mut zu kleinen Schritten und zur entschlossenen Absage an alle Resignation.
Ich darf dann erwachsen werden und reifen, nicht nur biologisch, sondern vor allem menschlich, darf die leise Kunst des Lebens entdecken und einüben: kann Abschied nehmen von kindlichen Allmachtsphantasien, Grenzen wahrnehmen und respektieren, das Fragmentarische und Bruchstückhafte des Lebens annehmen lernen. Vielleicht ist dies das Geheimnis der Begegnung mit dem sanftmütigen Eselsreiter: Es befreit nicht vom eigenen Leben, wohl aber zum eigenen Leben. Denn wenn es um Christusbegegnung geht, dann geht es um Freiheit, um aufrechten Gang, dann geht es um Würde des Menschen und um Selbstbewusstsein der Seele. Wenn es um Gott geht, dann werden wir aufgerichtet, nicht klein gemacht, nicht schuldbewusst runter-geredet. Es gibt viel zu viele Menschen, die mit sich selbst noch strenger umgehen als mit den anderen. Menschen, die sich selbst jeden Morgen gleichsam zum Endgericht rufen, die Tag für Tag vor dem Spiegel stehen und den Daumen nach unten halten, die sich nichts zutrauen und jede Kritik wie Honig aufsaugen, weil es der eigenen Entwertung entspricht. „Du kommst und machst mich groß“ so heißt es in einem Adventslied. So möchte ich tatsächlich existenziell diese kleine Erzählung von Jesu Einzug in Jerusalem deuten: du machst mich groß, groß ,dem Leben und dem Leiden standzuhal-ten; groß, immer wieder auf die Kraft der Liebe zu vertrauen und vor allem die Sehnsucht nach dem Leben nie zu verlieren.


Ihnen allen wünsche ich ein gesegnetes Weihnachtsfest.

Pfarrer Klaus Buhl
Generalkaplan der Großballei Deutschland